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 Kurzgeschichten
Sunshine Offline

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Beiträge: 935

06.03.2006 16:41
Das Lächeln Antworten

Das Lächeln

Eine belastende Ruhe herrschte in der Wohnung von Viola Bergmann. Da, wo die fünf Zimmer ständig mit jubilierendem Leben erfüllt waren, hing heute jedes Familienmitglied seinen eigenen Gedanken nach.
Innerhalb weniger Monate endete das 67 jährige Leben von Opa Karl. Handlungsunfähig mussten wir zusehen, wie sein Leben verlöschte. Die Bestrahlung brachte keinen Erfolg, trotzdem heftete jeder seinen Glauben daran, dass es wieder besser werden könnte. Wunder gibt es immer, doch diesmal war es zu spät.

Viola stand im Schlafzimmer vor dem geöffneten Kleiderschrank.
„Warum müssen wir eigentlich unbedingt schwarze Kleidung tragen?“, sprach sie laut zu ihrem Mann, „Ich finde das nicht in Ordnung. Jeder sollte für sich entscheiden, was er anziehen möchte.“
Ihre Hand wühlte nervös zwischen den Kleidungsstücken, bis sie endlich die schwarze Baumwollhose ihres Mannes Fred fand und auf das Ehebett warf.
„Wir müssen uns beeilen“, antwortete ihr Mann und schlüpfte hastig in die Hosen, „Sonst kommen wir noch zu spät.“

„Jungs, seid ihr fertig?“, rief Viola.
Widerwillig bewegten sich Martin und Jens aus ihren Zimmern. Viola wusste, dass sie am liebsten zu Hause bleiben würden, aber sie waren keine kleinen Kinder mehr mit ihren 22 und 19 Jahren. Das Sterben gehörte zum Leben wie das Lachen hatte Viola ihnen schon in jungen Jahren erklärt.

Mit schnellen Schritten liefen sie die Treppe herunter, stiegen ins Auto und fuhren Richtung Friedhof. In letzter Minute betraten sie die Kapelle. Viola empfand Abscheu vor diesem Anblick. Mit steifer Körperhaltung ging sie hinter ihrem Mann und den Söhnen auf die dritte Bankreihe zu. Widerwillig setzte sie sich auf das kalte abgenutzte Holz. Eine Armlänge vor ihr sass Schwester Katrin mit Ehemann Jürgen und Tochter Lydia und in der Reihe davor ihre Eltern mit Oma Else.
Violas Augen huschten unruhig durch die Kapelle. Das bohrende Schweigen drückte sie noch tiefer in die harte Bank.
„Sogar der Himmel weint“, flüsterte sie leise hinter vorgehaltener Hand zu ihrem Mann, der aber nicht antwortete. Mit einem leisen Seufzer richtete sich Viola wieder auf und wartete ungeduldig auf den Pastor. Ihre Finger spielten nervös miteinander und die Betroffenheit aller Besucher hing wie ein dumpfer Nebel im Raum. Dann ertönte die Orgel. Jammernde Klänge. Mit bedächtigen Schritten schlich Pastor Meier den langen Gang zwischen den Bänken hindurch. Erhobenen Hauptes und die Hände ordentlich über dem Bauch gefaltet, verweilte er eine Minute vor dem Sarg.

Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, als hofften sie, er würde ihnen die Traurigkeit aus dem Herzen reissen. Mit einem frommen Gesichtsausdruck blickte er von der Kanzel auf die Trauergemeinde und begann seine Ansprache. Es folgte ein Gebet. Viola hatte das Gefühl, als würde das Murmeln der Trauergäste gegen die weiss gekalkten Wände stossen, abprallen und im Raum hin und her schaukeln.
Ihre Augen hefteten sich an das große schmucklose Jesuskreuz, bis es vor ihrem Blick verschwamm und die Gedanken in eine ferne Zeit abwanderten.

Der Grundstein für ihren Widerwillen gegen Beerdigungen wurde hier gelegt. Der Trauerfeier für Oma Lotte. Ihrer Schwiegermutter. Den einzigen Trost, den Viola dabei empfand war, dass Oma Lotte noch ihren Enkelsohn Jens in den Armen halten konnte. Das erstgeborene Kind ihres jüngsten Sohnes Fred.

Es war ein regnerischer Tag im Oktober gewesen, als die Nachricht von ihrem Tod ihre Wohnung erreichte. Viola war traurig. Ihr Mann verzweifelt. Sie versuchte ihm Trost zu spenden. Nahm ihn in den Arm. Aber wie kann man in dieser Situation trösten, wenn sich der Schmerz ins Herz frisst. Dann kam der Beisetzungstag. Die Friedhofskapelle war bis auf den letzten Platz besetzt. Viele Dorfbewohner mussten draussen bleiben und dort auf das Ende der Trauerzeremonie warten.

Der Duft der schwarz gekleideten Trauergäste machte die Stimmung noch bedrückender. Nahm Viola die Luft zum Atmen. So viele Leute, dachte sie, das ganze verdammte kleine Dorf hatte sich eingefunden.

Nachdem endlich die Feierstunde vorüber war, begab sich die Menschenmenge zur Grabstelle und kreiste sie mit mehreren hintereinander stehenden Reihen ein. Viola bekam plötzlich panische Angst. Sie griff nach dem Arm ihres Mannes und suchte Schutz. Der Pastor erhob seine Stimme. Ein lautes Aufschluchzen begleitete seine Worte. Was für eine Schauspielerei, dachte Viola, schluckte die aufkommende Wut herunter und biss sich auf die Lippen.

Der Ehemann, die Kinder und Schwiegerkinder von Oma Lotto heulten laut. Ihre Körper glichen Marionetten, ihre Köpfe hingen auf der Brust und Viola verachtete sie und ihre heuchlerischen Tränen. Sie fand nur tröstliche Gedanken für den jüngsten Sohn, ihren Mann.

Zu Lebzeiten haben sie Oma Lotte nur herum gestossen, ausgenutzt und angeschrieen. Oft musste Viola im ersten Jahr ihrer Ehe mit Fred, das sie im Hause der Schwiegereltern verbrachten, böse Beschimpfungen mitanhören. Und jetzt. Sie zerflossen vor Selbstmitleid. Diese Heuchler. Es fehlte nur noch der Sprung ins Grab. Die Stimme des Pastors wurde überschwemmt von winselnden Geräuschen.

Es wurde noch schlimmer, als der Sarg langsam in der Erde versank.
„Mach es gut Oma Lotte“, sprach Viola leise für sich, „Leider habe ich dich noch gar nicht richtig kennen lernen dürfen. Aber eins wünsche ich dir. Sollte es irgendwo ein neues Leben geben für dich, geniesse es.“

Viola wollte aufatmen, aber kam nicht mehr dazu. Das Dorf hatte sich angestellt und zog in einer nie enden wollenden Schlange an den Familienangehörigen vorbei, um sein Beileid auszudrücken. Aus Violas Augen schoss ein Wolkenbruch. Am liebsten wäre sie weggelaufen, aber der Anstand zwang sie zum Bleiben. Ungern erinnerte sich Viola an diese Szenen.

Die laute Stimme des Pastors Meier holte sie zurück in die Wirklichkeit und forderte die Trauergemeinde zu einem gemeinsamen Lied auf. Danach folgte die Erinnerungsrede. Kurz und schmerzlos, ohne viel zu sagen über Opa Karl. Hatte Opa Karl überhaupt ein Leben gehabt?

Und so flogen Violas Gedanken wieder in die Vergangenheit und landeten auf einem Bauernhof, der mitten in einer Kleinstadt lag.

Etwas suchend schaute sie zur Decke, zum Fenster und dem hölzernen Sarg in der Kapelle.
„Erinnerst du dich noch an die Zeit vor fünfunddreißig Jahren, Opa?“, fragte Viola ganz leise.
„Als du mich zum ersten mal auf den Schimmel gesetzt hast. Ich wollte unbedingt da oben rauf, obwohl mir die Angst fast aus den Augen sprang. Wie alt war ich damals? Ich glaube so neun Jahre und spindeldürre. Man war das hoch. Mein Herz schlug Purzelbäume.“

„Ich erinnere mich sehr gut“, vernahm Viola plötzlich die Stimme ihres Großvaters, „Du hast am ganzen Körper gezittert, aber dein Wille war ungebrochen oder sollte ich es lieber Starrsinn nennen.“

„Woran erinnerst du dich noch?“, fragte mich Opa Karl gleich darauf bei unserem Gedanken-spaziergang in die Vergangenheit.
„Da gibt es viele Dinge“, antwortete Viola, „Zum Beispiel der Dachboden des Hauses. Du weißt es sicherlich nicht, aber wir haben so oft dort herumgestöbert. Es war wie ein kleines Abenteuer in die Vergangenheit. Manchmal haben wir Reichsmark gefunden, eine Schiefertafel, alte Fotos, meinen ersten Kinderwagen und sogar den alten Kinderwagen meines Vaters.“

Ich spürte, dass Opa Karl schmunzelte, seine rechte Hand auf meiner linken Schulter lag und er mich weiter ausfragte.
„Wie war das mit dem Spinnrad?“
Ja! Spinnen wollte ich als kleines Mädchen schon immer. Doch leider hat es nie so recht funktioniert. Den Faden zwischen den Fingern drehen und gleichzeitig das Spinnrad mit den Füssen in Schwung halten, war nicht so einfach, aber Oma Else war darin Meisterin und so bestaunte ich lieber ihre Fingerfertigkeit.

„Du und deine Schwester Katrin, ihr habt den ganzen Hof unsicher gemacht“, sprach Opa Karl weiter und lachte dabei.
„Das ist wahr“, antwortete Viola, stimmte in das Lachen ein und erinnerte sich.
Katrin und ich konnten kaum mit Opa Karl Schritt halten. Er war so groß, dünn und hatte unendlich lange Beine. Mit kleinen Schritten trippelten wir hinterher, wenn es zum Füttern der Hühner ging. Neugierig wie ich es schon immer war, kroch ich zu den Hühnern in den Stall. Es musste alles genauestens untersucht werden. Ich hätte das lieber nicht tun sollen, denn an meinen Beinen sammelten sich die Flöhe und ich begann wie ein kleines Ferkel zu quietschen.
Dann war da noch dieser verrückte Hahn. An einem Nachmittag im Sommer spazierte ich mal wieder über den Hof und ärgerte das Federvieh. Bis sich der Hahn für mich interessierte. Er flatterte auf mich zu und pickte nach meinem roten Rock. Schreiend lief ich so schnell wie ich konnte zur Hintertür des Hauses und die Treppe hinauf in die Küche. Vom Fenster aus zeigte ich ihm eine lange Nase.

Einer unserer Lieblingsplätze war die Scheune. Vollgestopft mit Stroh und Heu für die vielen Tiere lockte sie uns immer wieder durch das große Tor. Mutprobe nannten wir es und sprangen vom Scheunenbalken ins Stroh oder Heu. Oftmals sassen wir auch nur so da, erzählten und ließen die vom Stroh zerkratzten Beine baumeln. Manchmal legten wir uns auch einfach ins Heu und spielten mit den kleinen Kätzchen.

„Sag mal Opa, warum habe ich eigentlich im Hühnertrog gesessen?“ flüsterte Viola neckisch.
„Du warst ungefähr drei Jahre alt, als ich dich sitzend im Hühnertrog fand. Draussen war es kühl und der Trog war voll mit gedämpften Kartoffeln. Du hast mittendrin gesessen, weil es dort so schön warm am Po war“, antwortete Opa Karl schmunzelnd.

Manchmal durften wir auch in den Betten unserer Großeltern schlafen. Die Kissen waren so dick, das man darin versank. Morgens wurden wir geweckt vom Brüllen der Kühe und dem Zwitschern der fleißigen Schwalbeneltern.

Aber wir waren nicht nur auf Entdeckungsreise, sondern haben auch oft geholfen. Entweder beim Füttern der Tiere oder beim Eier stempeln. In einem Jahr hatten wir sogar ein kleines Ferkel in Pflege. Es durfte in der Küche schlafen, sorgte für manche Aufregung und quiekte jämmerlich, wenn es Hunger hatte.

Viola kräuselte die Nase. Roch es hier nicht nach frischem Heu, hörte ich da etwa den Hufschlag der Pferde und spürte die heissen Sonnenstrahlen.
„Du vermutest genau richtig“, hörte Viola wieder ihren Opa reden. „Ich höre euch noch wie heute lachend und kichernd auf dem Heuwagen. Deine Schwester und du, ihr wart euch einig, was selten vorkam.“
Über Violas Gesicht huscht ein Lächeln, als sie sich an diese Zeit erinnert. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Katrin hatte sie auf dem Heuwagen gelegen und die Wolken und Schwalben am Himmel beobachtet.
„Fliegen die Schwalben tief, gibt es bald Regen“, sprach Opa Karl immer zu uns und trottete neben dem Fuhrwerk her.
Er ging immer etwas nach vorne über gebeugt, obwohl er noch gar nicht so alt war. Oma Else nannte ihn immer „Puddel“. Sie war 13 Jahre älter, viel kleiner und etwas rundlich. Obwohl sie die Hosen im Hause anhatte, war Opa Karl immer freundlich und fröhlich. So weit ich mich erinnern kann, kam nie ein lautes oder böses Wort über seine Lippen. Er konnte essen und wurde nie dick. Wenn wir schon alle das Essen beendet hatten, futterte Opa Karl noch kräftig. So sassen wir Mädchen immer da und bestaunten die Brotberge, die in ihm verschwanden.
„Eat doch min Dirne“, sagte er immer zu mir, „damit du grot und stark warst. Und wir assen, am liebsten viele hart gekochte Eier.

Plötzlich spürte Viola eine sanfte Wärme auf ihrer Wange. Ungläubig hob sich ihr Blick zum Fenster und sie sah, wie sich die Sonne ihren Weg durch die grauen Wolkenmassen bahnte. Die ersten goldenen Strahlen des Tages fielen durch das angestaubte Fenster und landeten auf dem dunkelbraunen Sarg.

„Schau Opa. Die Engel haben eine wunderschöne Sonnenstraße für dich gebaut. Sie werden dich jetzt mitnehmen und niemals mehr werden Kummer, Sorgen oder Schmerzen in dein Herz dringen.“

Die Erinnerungsrede des Pastors war beendet und auch Viola hatte auf ihre Art Abschied genommen. Ein glückliches und zufriedenes Lächeln tanzte auf ihren Lippen. In ihrem Herzen herrschte vollkommene Ruhe und Zufriedenheit. Ein letztes Mal erklang die Orgel. Ein Stück aus der Volksmusik hätte Opa Karl bestimmt viel besser gefallen, dachte Viola, denn er liebte diese Musik sehr. Vielleicht sollte der Mensch die Regeln durchbrechen und sich nicht immer an ihnen festkrallen.

Mit diesen Gedanken verließ Viola die Kapelle und begleitete den Sarg zu dem schwarzen, kalten Loch in der Erde. Still stand sie an seinem Grab, warf den kleinen Blumenstrauß hinein und stellte sich neben ihre Familie.

© Oktober 2004


geschrieben von Heidelind Matthews


euch hat die geschichte gefallen und ihr wollt kontakt zu heidelind auf nehmen dann schreibt ihr eine mail sie wird sich freuen. E-mail: Sekretaeri@aol.com



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