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 Kurzgeschichten
Sunshine Offline

Administrator



Beiträge: 935

06.03.2006 16:45
Der letzte Tag Antworten

Der letzte Tag

“Am letzten Tag geht die Welt unter.“
Alle hatten´s geglaubt. Der alte Priester hatte es in dunklen Bildern vorhergesehen.
Angst hatte sich verbreitet unter den Passagieren des alten, keuchenden Schiffes.
“Heute ist der letzte Tag, heut geht die Welt unter“, hämmerte es in Gunnars Kopf, “der alte Priester muß es doch wissen.“
Die Wellen schlugen hoch über das Schiff. Auf und ab wurde es geschleudert. Die Bohlen ächzten und raunten schwerfällig. Längst waren die Segel zerrissen und hingen in Fetzen an der Rahe.
Die Frauen und Kinder hockten eng zusammengekauert im Unterdeck.
Drei Tage schon wütete der Ozean, und kein Gebet hatte ihn beruhigen können.

Der alte Priester stand breitbeinig an der Reling. Seine Hände hatte er fest um die Taue der Ankerwinde gekrallt. Er starrte regungslos auf die kochende See.
“Die See braucht ein Opfer“, murmelte er. “Die Welt geht unter!“

Das ist nun der letzte Tag. Und dabei sollte es doch eine neue Zeit werden. Ein neuer Anfang in einer besseren Welt. Frei von Angst und Elend. Sie waren doch nicht mehr weit entfernt. Wie viele Meilen noch?
In dieser Hölle hatten sie die Orientierung für den Raum und die Zeit längst verloren.

Stundenlang hatten sie versucht, sich gegen die Gewalten der ungebändigten Natur zu wehren. Erschöpft lagen sie nun auf den nassen, glitschigen Planken. Es hatte ja keinen Sinn, der Priester hatte Recht.
Sie merkten am Anfang nicht, daß das Schwanken weniger, das Tosen immer leiser wurde.
Die Hölle schloß langsam ihr Fenster, durch das sie alle hineingeschaut hatten.

Und dann hat einer der Männer ihn gesehen. Ein Regenbogen spannte sich quer über den unendlichen Ozean. Er senkte seine Farben über den müde gewordenen Kahn, gerade so, als wollte er ihn beschützen. Die Männer erhoben sich schwerfällig und blickten zum Himmel. Die Frauen und Kinder krochen aus dem Bauch des Seglers und holten tief Luft.
In der Ferne leuchtete der Morgenstern noch einmal kurz auf, um dann der Sonne Platz zu machen.

Plötzlich ein lauter Ruf: “Land in Sicht!“
Aus hundert Kehlen erklangen dann die erlösenden Worte: “Land in Sicht!“

Als endlich alle Passagiere über die Brücke an das unbekannte Ufer in eine neue Welt gingen, fragten einige:
“Wo ist denn der alte Priester?“
Sie schauten sich um. Er war nirgends zu entdecken. In der Aufregung hatte sich auch niemand um den anderen gekümmert. Das letzte Mal hatten sie ihn gesehen, als er im schlimmsten Sturm an der Reling stand.
Gunnar ging noch einmal zurück und suchte das Schiff ab. Doch den alten Priester fand er nicht.
Dann fielen ihm die Worte wieder ein: “Die See braucht ein Opfer.“

Niemand hat je erfahren, wer sie gerettet hatte. Niemand hat je erfahren, was mit dem alten Priester geschah.
Wenn Gunnar später die Geschichte erzählte, mußte er den Schluß immer offenlassen.
Doch geglaubt hat so jeder seinen eigenen Schluß der Geschichte.

geschrieben vonMonika Klemmstein


euch hat die geschichte gefallen und wollt kontakt auf nehmen dann schreibt monika einfach ein mail sie wird sich freuen. E-mail: klemmy@t-online.de



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