Die blaue Rose
„Hmm…“, machte Linda. Sie lag auf dem Bauch und starrte Anne schon seit geraumer Zeit an. Seit 456 Sekunden, um genau zu sein – sie hatte mitgezählt. Vielleicht waren es auch 457 oder 455, aber es hatte so oder so keine Bewandtnis.
„Was denn?“ Anne hatte bis eben in einem Buch gelesen und schaute nun zu ihrer Freundin herüber. „Du hängst da so wie’n alter Sack“, meinte sie dann und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Linda gähnte und angelte mit dem Fuß nach ihren Zigaretten. Langsam zog sie die Packung zu sich rüber. „Was wünscht’n du dir zum Geburtstag?“, fragte sie und schaute in die Schachtel. „Also, ich brauch’ erst mal neue Zigaretten“, meinte sie dann und nahm die letzte aus der Packung.
„Ich will ’ne blaue Rose haben“, erwiderte Anne, ohne aufzublicken. „So blau wie dein Feuerzeug.“
Linda hatte tatsächlich gerade ihr Feuerzeug aus der Hosentasche gezogen und betrachtete es jetzt. „’s gibt doch gar keine blauen Rosen“, meinte sie dann.
„Stimmt.“
Erstaunt sah sie zu Anne rüber. „Warum willst du dann eine haben, wenn es doch gar keine gibt?“
„Man kann welche machen“, widersprach Anne. „Man muss nur eine weiße Rose in Tinten stellen, dann wird sie mit der Zeit blau.“
„Gibt’s denn weiße Rosen?“, nuschelte Linda mit der Zigarette im Mundwinkel.
„Bestimmt. Bräute haben garantiert immer einen Strauß mit weißen Rosen, wo weiß wie ihr Kleid.“
„Wenn man so’ne Braut in Tinte stellt“, überlegte Linda, „wird die dann auch blau?“
„Eher, wenn man sie in Alkohol stellt“, erwiderte Anne.
Keine der beiden lachte.
„Hm“, machte Linda nach einiger Zeit wieder. „Und was willst du dann mit der blauen Rose anfangen?“
Anne überlegte ein bisschen. Dann sagte sie: „Ich will sie auf mein Grab gelegt haben.“
„Auf dein Grab? Wieso das denn?“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Anne Lindas hastige Bewegungen. Ihre Finger drehten die Zigarette hin und her, und sie hatte sich aufgesetzt. „Du stirbst doch noch gar nicht“, sagte sie dann.
„Tja…“, sagte Anne gedehnt. „Doch, schon.“ Sie drehte sich ebenfalls auf den Bauch, sodass sie Linda zum ersten Mal direkt anschauen konnte. „Ich war heute Morgen beim Arzt. In einem halben Jahr oder so sterbe ich, hat er gesagt.“
Lindas Lächeln erstarb völlig, und als sie ein neues versuchte, gelang es ihr nicht. „Wie? Du verarscht mich, oder?“ Ihre Blicke liefen unruhig über das Gesicht der Freundin, sie drehte die Zigarette im Mundwinkel. Unstetiger Rauch stieg von der glühenden Spitze auf.
Anne seufzte und verschränkte dann die Arme unter dem Kinn. „Ne, leider nicht.“
Ihre Stimme wurde leiser, als sie sagte: „Na ja, meine chronische Leukämie ist akut geworden. So viel Hoffnung gibt’s nicht mehr, aber irgendwie war es ja schon klar, dass es irgendwann so weit kommen würde.“ Sie setzte sich auf, schlug das Buch zu und verstaute es sorgsam im Regal. „Deswegen will ich eine blaue Rose zu meinem Geburtstag haben. So’ne blaue Rose ist was ganz besonderes, und ich will auch was ganz besonderes auf mein Grab haben. Damit man mich nicht so schnell vergisst, vermute ich mal. Zwar ist die von meinem Geburtstag bis zu meinem Tod vermutlich schon verrottet, aber das macht nichts.“
Der Kloß in ihrem Hals war größer geworden während sie sprach, und sie biss sich auf die Fingerkuppe. „Ach, was soll’s“, murmelte sie dann leise.
Linda hatte ihre Zigarette ausgedrückt und starrte noch ein bisschen dem verschwindenden Rauch hinterher. Auch sie hatte ihren Daumen im Mund und kaute gedankenverloren darauf herum.
„Echt jetzt?“, fragte sie leise und im selben Moment liefen ihr Tränen aus den Augen. „Ach, Mist“, murmelte sie und wischte sie hastig weg. „Ach, Mist.“
Anne stand zwei Meter von ihr entfernt und hatte ihr den Rücken zugedreht. Mit ihren Finger strich sie über die Bücher im Regal vor ihr, als würde sie etwas suchen.
Linda konnte nur dasitzen und sie anstarren und heulen. Sie wusste eigentlich überhaupt nicht, warum sie heulte, die Vorstellung, dass Anne tot sein würde war noch gar nicht bis in ihren Kopf vorgedrungen.
Anne drehte sich jetzt ruckartig um. „Hey, ist doch nicht so schlimm, wir können zusammen losgehen und einen schönen Grabstein aussuchen. Früher haben wir doch auch immer drüber geredet, wie unsere Grabsteine aussehen sollten. Ich wollte so einen aus Sandstein richtig? Wer weiß, vielleicht finden wir einen.“
Linda starrte sie weiterhin an. „Bist du verrückt geworden?“, flüsterte sie leise. Dann schrie sie plötzlich: „Das war doch etwas ganz anderes! Verflucht, wie kannst du nur so ruhig sein?!“
Anne wich erschrocken zurück. Dann biss sie sich auf die Unterlippe. „Verflucht, was bringt es denn, wenn ich rumheule?“, presste sie hervor. „Mann, du verstehst echt gar nichts! Ich kann mich hier in meinem Zimmer einschließen und mir die Augen ausweinen. Kann ich machen!“ Sie stampfte auf. „Meine Familie wird’s sicher freuen, wenn ich vom Essenstisch aufspringe und in mein Zimmer renne, um mein Schicksal zu beweinen!“ Ihre Augen wurden schmaler. „Aber dann würde es mir ständig einfach nur beschissen gehen.“
Linda presste die Lippen aufeinander.
„Verdammt, ich ziehe hier auch keine Schau für irgendwen ab“, wurde Annes Stimme wieder sanfter. „Aber mach’ doch kein Theater. So schlimm kann es nun auch nicht sein.“
„Was soll dieser blöde Galgenhumor? Das tut weh, weißt du? Wenn du so tust, als sei es gar nichts, aber es tut schon so genug weh, dann tu nicht noch so, als hätte ich gar keinen Grund dazu.“ Linda hatte mehrmals schlucken müssen, um die Worte überhaupt herauszubringen.
„Es sollte aber auch kein Grund sein, den ganzen Tag nur herumzuheulen, weißt du?“ Anne ließ sich neben Linda aufs Bett fallen. Eine Weile schwiegen sie. Dann zupfte sie Linda leicht am Ärmel. „Du“, flüsterte sie, „ich hab’ heute auch wie blöde geheult, als ich die Diagnose bekommen habe. Ich wird’s morgen auch tun, wenn ich aufwache und merke, dass es kein Traum war. Und übermorgen auch. Und heute Abend werde ich auch heulen. Aber…“ Sie machte eine Pause. „Irgendwie ist das wie mit der weißen Rose. Man stellt sie in ein Glas mit Tinte und sie wird blau, aber das ändert doch nicht so viel. Ist immer noch ’ne blaue weiße Rose. Vielleicht ist es ja nicht so schlimm.“
Linda sah nicht fröhlicher aus. „Das ist totaler Mist, was du da sagst“, flüsterte sie. „Einfach nur Mist.“
Eine Weile sagte wieder keiner der beiden was.
Dann stand Anne auf: „Gut, gehen wir dann Grabstein anschauen?“
Für einen Moment starrte Linda sie dann an, dann packte sie ein Kissen und schleuderte es nach ihrer Freundin. „Du bist so scheiße, du bist so blöde!“, schrie sie und schlug dann mit ihren Fäusten und auf sie ein, packte dann wieder das Kissen und prügelte Anne damit und weinte. Anne prügelte zurück und weinte auch.
Irgendwann lehnte Linda erschöpft den Kopf gegen Annes Schulter und meinte keuchend: „Ich kann nicht mehr.“
Anne legte ihren Kopf auf Lindas und nickte leicht. „So eine Scheiße.“
„So eine Scheiße“, seufzte auch Linda noch mal. „Wie soll das nur werden ohne dich?“
„Wird schon irgendwie, wird schon. Vergiss nur die blaue Rose nicht. Allein der Aufwand und die Sauerei, die du dabei fabrizieren wirst wird dich an mich erinnern, und du wirst fluchen, ich versprech’s dir.“
„Versprochen“, murmelte Linda und wusste schon gar nicht mehr, warum sie das gesagt hatte.
-
Anne starb zwei Woche vor ihrem Geburtstag bei einem Autounfall.
Das ganze hatte so eine tragische Ironie, dass Linda manchmal für einen Moment das Weinen unterbrach und ein bisschen darüber lachte.
Einen Tag vor Annes Geburtstag besorgte sie in einem Blumenladen in der Nähe des Friedhofs eine einzelne, weiße Rose und stellte sie über Nacht in ein Glas mit Tinte und ein wenig Wasser.
Am nächsten Tag schwänzte sie die Schule und ging stattdessen auf den Friedhof.
Annes Grab war im Schatten zweier großer Trauerweiden gelegen, und ein kleiner Sandstein mit ihrem Namen und den knappen Geburts- und Sterbedaten zierte es. Ein Blumenstrauß lag bereits auf dem Grab, und eine Kerze stand daneben.
Linda legte ihre Rose direkt vor den Grabstein. „Es hat nicht so richtig geklappt“, sagte sie dann leise. „Die Blätter sind auch blau geworden, und die Blütenspitzen sind weiß geblieben.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Ist aber nicht schlimm, oder?“
Und nach einer kurzen Pause fügte sie noch hinzu:
„So ist es wirklich etwas ganz Besonderes.“
geschrieben von Katharina Stegen
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