Edwina stieg aus dem Bus und lief die Straße entlang. Alles leuchtete im Abendrot. Sie ging lustlos durch die Pfützen und ihre Schuhe wurden nass. Egal, dachte sie. Wen interessierte das denn jetzt noch? Sollten ihre Schuhe doch nass werden. Niemand kümmerte sich darum. Es war nämlich niemand mehr da, den es kümmern könnte. Sie lief weiter. Überall wanderten Leute umher und lachten. Lächelten blöd. Mit Einkaufstüten bepackt, mit Pelzen um ihren Körper. Ob die wohl wussten, zu wem diese Pelzen gehörten. Wussten sie ob jetzt irgendwo ein Fuchs trauerte, weil er seinen Vater oder seine Mutter verloren hatte. Und sie fraßen. Stopften das Fastfood in sich rein und Süßkram. Und alle rauchten. Überall dieser Qualm.
Miefiger Qualm der Edwina den letzten Atem raubte, oder das, was davon noch übrig war. Und dabei schoben sie ihre Kinder im Kinderwagen vor sich her. Kurz leben, jung sterben. So war offenbar ihre Devise. Offenbar war ihnen ihr Leben nicht wertvoll. Dabei war das Leben, doch das wertvollste was es gab. Schließlich man nur eins. Und sie würden ihre Kinder auch bald verlieren, wenn sie nicht damit aufhörten. Wenn die nicht schon an dem Qualm erstickt sind. Und laufend, wo sie auch hinging, stritten sich irgendwelche Leute. Mit ihren Kindern, und ihren Ehepartnern. Wussten die denn nicht, wie kostbar all diese Menschen sind. Das man sie hatte war doch keine Selbstverständlichkeit. Und die ganzen Typen, die sich auf der Straße betrinken. In ihrer Schule tranken sie auch immer. Saufen bis zum geht nicht mehr. Bis zum Tod, als gäbe es kein morgen, nicht wofür es sich lohnte weiterzuleben. Aber wenn sie ehrlich war, gab es für sie ja auch nichts mehr. Schon lange fragte sie sich, wozu das alles. Wozu weitermachen in diesem Drecksloch, der Welt. Als sie heute morgen in der Schule saß, hatte sie sich schon gefragt, wozu. Der Lehrer hatte irgendetwas über binomische Formeln erzählt, aber wen kümmerte das schon? Gab es nichts wichtigeres? Was konnten ihr binomische Formeln schon geben? Glücklich machten sie sie nicht. Sie gaben ihr nicht das zurück was sie verloren hatte. Alles andere hatte jetzt ohnehin keinen Sinn mehr. Wen kümmerte es noch, ob sie zur Schule ging, ob sie gute Noten hatte, ob sie Freunde hatte? Sie nicht, und auch sonst niemanden. Niemanden kümmerte es wieviel a plus b in klammern zum Quadrat war. Was nützte es ihr, wenn sie es wusste? Es beantwortete ihr nicht, die wirklich wichtige Frage. Der Mathelehrer konnte ihr nicht sagen, wieso das alles geschehen war, und was ihr Leben jetzt noch für einen Sinn hatte. Wieso sie weitermachen sollte. Früher war sie gern in die Schule gegangen, aber nun war alles egal. Früher ging sie auch gern mit ihren Freundinnen shoppen, aber die ödeten sie nur noch an, mit ihrem ewigen Gerede über Kerle, Klamotten und Schminke und dem blöden Gekicher. Die hatten keine Ahnung, worauf es ankam. Sie hatten ihr gesagt, sie solle doch nicht immer so ein mürrisches Gesicht ziehen und endlich mal wieder lachen. Sie hatten ihr gesagt, sie würde sie noch ganz verrückt machen mit ihrer ewig miesen Laune. Dann sollten sie doch einfach wegbleiben. Sie brauchte sie nicht. Sie brauchte niemanden mehr. Keiner konnte ihr das zurückgeben was sie verloren hatte. Nichts konnte diese unendliche Lehre füllen. Schon gar nicht diese dummen Hühner. Sie wusste gar nicht mehr, was sie überhaupt an denen gefunden hatte. Überhaupt wusste sie nicht mehr, warum sie früher so gute Laune gehabt hatte. Sie war nicht mehr die, die sie früher war. Der Direktor hatte sie auch gefragt, was denn mit ihr passiert sei, als sie heute morgen bei ihm gesessen hatte. Der Mathelehrer hatte sie dahin geschickt. Es war das erste mal, dass sie zum Direktor musste. Sie hatte dem Mathelehrer gesagt, er solle seine Klappe halten. Daraufhin hatte er sie ins Klassenbuch eingetragen. Das erste mal. Sie war zuhause angekommen und öffnete die Tür. Niemand war da. Wie sollte es auch anders sein. Alles war leer. Die Tische, die Stühle, das Sofa und Edwinas Herz. Der Direktor hatte gesagt, er wollte mit ihren Eltern sprechen. Da fing sie an zu weinen und niemand wusste den Grund, denn sie hatte es niemandem erzählt. Wenn sie daran dachte, wie oft ihre Freundinnen geschimpft hatten über ihre \"spießigen Alten\". Sie wäre froh wenn sie an ihrer Stelle wäre. Sollten sie doch froh sein, dass sie noch Eltern die mit ihnen meckerten, denn sie hatte keine mehr.