Sturm und Flut: Die schlimmste Naturkatastrophe der Bundesrepublik
“Die Sturmflut“, die in der Nacht auf den 17. Februar 1962 über die Nordseeküste hereinbricht, kostet 315 Menschen das Leben. Es ist die schwerste Naturkatastrophe der Nachkriegszeit in Deutschland. Von Island kommend erreicht das Sturmtief “Vincinette“ (die Siegreiche) mit Windstärken von 12-13 Orkanstärke. Mit bis zu 200 Stundenkilometern treibt es aus Nordwest gewaltige Wassermassen stundenlang in die trichterförmige Elbmündung hinein. Sturm und Flut vereinigen sich.
Deiche an Nordsee, Weser und Elbe brechen. Während an der sturmerprobten Küste nur wenige Menschen ums Leben kommen, trifft es die 100 Kilometer landeinwärts gelegene größte westdeutsche Stadt umso schlimmer: In Hamburg brechen 60 Deiche von insgesamt 2,5 km Länge. Um 3.07 Uhr wird in St. Pauli ein Wasserstand von 5,73 Metern über Normal Null (NN) gemessen - bis dahin waren die 5,24 Meter der Flut von 1825 der höchste gemessene Wert. 277 Menschen sterben in der Hansestadt - im Bett, vor Erschöpfung und Unterkühlung auf Dächern, oder weil die Flutwelle sie in die eigenen Keller stieß.
Am schlimmsten trifft es den Stadtteil Wilhelmsburg, eine Elbinsel im Süden der Hamburger Innenstadt. Viele der rund 80.000 Einwohner sind Ausgebombte oder Flüchtlinge, die sich 17 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Behelfsheimen und Schreberkolonien eingerichtet haben. Die Insellage Wilhelmsburgs ist ihnen so wenig bewusst wie die ursprüngliche Bedeutung der Deiche als existenzieller Schutz. Hamburg sei der Überzeugung gewesen, “dass es durch Wasser nicht mehr wirklich gefährdet werden könne“, wie Helmut Schmidt im Februar 2002 schreibt.
Aus einer verheerenden Sturmflut, die 1953 in Holland rund 1800 Tote gefordert hatte, sind Lehren gezogen worden. Es gibt einen Katastrophenplan aus dem Dezember 1961 und ein Flutvorhersagen-System. Auch das Sturmtief, das sich über Island gebildet hat, wird beobachtet. Gegen 8.45 Uhr erfolgt am Freitag, dem 16.2., eine Sturmflut-Warnung für Hamburg, um 11.33 Uhr der Ausnahmezustand für alle Feuerwachen. Gewitter und Stürme beschäftigen die Feuerwehren. Um 16.10 Uhr ist der vorläufige Höhepunkt der Flut erreicht. Orkanböen über der Nordsee peitschen jedoch weiter Wasser in die Elbe hinein.
Um 20.33 Uhr unterbricht das NDR-Radio seine Mittelwellen-Sendung – eine Aufnahme von Haydns “Schöpfung“ – um vor der “Gefahr einer sehr schweren Sturmflut... drei Meter höher als das mittlere Hochwasser“ zu warnen. Doch beruhigt die Mitteilung, das Mittagshochwasser werde bereits “nicht mehr so hoch“ sein. Eingängige Warnungen wie “Die Bevölkerung wird dringend gebeten, die höheren Stockwerke aufzusuchen! Sagen Sie bitte ihren Nachbarn Bescheid“, die etwa in Cuxhaven an der Elbmündung Schlimmeres verhindert, unterbleiben.
Außerdem haben am Freitag viele Arbeiter ihren Lohn bekommen und beginnen das Wochenende. Und im damals einzigen Programm des Fernsehens läuft die beliebte “Familie Hesselbach“. Gegen 21.00 Uhr bittet das Hydrographische Institut um eine Alarmmeldung im TV. Erst in der “Tagesschau“ um 22.15 Uhr wird die Warnung verlesen. Die letzte “Tagesschau“ warnt um 23.20 Uhr erneut mit der erhöhten Hochwasser-Prognose von 5,20 m über NN. Alarmierend aber wirkt dies nur auf erfahrene Deichanwohner. “In Wilhelmsburg weiß niemand, dass er in einem Loch sitzt, das volllaufen kann“, sagte der Leiter des Hydrographischen Instituts später (Spiegel 9/ 1962, S. 22).
Kurz nach Mitternacht bricht der erste Deich im Hamburger Stadtteil Neuenfelde. Sirenen und Lautsprecher warnen, werden aber vom Sturm übertönt. Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr müssen zwischen Warnen und Retten entscheiden, schlagen Scheiben ein. Als um 0.30 Uhr der Notstand für Hamburg erklärt wird, sind bereits mehr als 50 Deiche gebrochen – meist von hinten, durch den Druck des seit Stunden übergeschwappten Wassers. In Wilhelmsburg brechen Außendeiche in allen vier Himmelsrichtungen. Die Flut sprengt Fenster, Türen, Wände und spült sogar ganze Holzhäuser weg. Gegen 4.00 Uhr stehen 20 Prozent der Stadt unter Wasser.
Seewetteramt, Hydrographisches Institut, Tiefbauamt u.a. - viele Stellen sind wegen der drohenden Gefahr informiert. Teilweise erzielen routinemäßige Warnungen geringe Aufmerksamkeit; wegen Sturmschäden sind viele Einsatzkräfte bereits den ganzen Tag über im Einsatz – einen Überblick über das Ausmaß der Bedrohung und besondere Gefahrenpunkte aber gibt es nicht. Dringende Hilferufe und eher nebensächliche Schadensmeldungen laufen zusammen, eine Evakuierung gefährdeter Gebiete sieht die Katastrophenplanung ohnehin nicht vor. Als “Retter“ macht sich der Polizei- und Innensenator Helmut Schmidt, 43, genannt “Schmidt-Schnauze“, einen Namen. Spät in der Nacht kehrt er von einer Tagung der bundesdeutschen Innenminister aus West-Berlin zurück und übernimmt sofort die Organisation.
Schmidt fordert Unterstützung vom Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß und vom Oberkommandierenden der NATO in Europa an. Erstmals –noch ohne gesetzliche Grundlage – kommen Soldaten der Bundeswehr zu einem zivilen Inlands-Einsatz. Zu 8.000 deutschen stoßen 4.000 amerikanische, britische und holländische Soldaten. Bundesgrenzschützer, Polizisten aus anderen Bundesländern, Technisches Hilfswerk, Feuerwehr und Freiwillige sogar aus Dänemark kommen dazu. Bis zu 25.000 Hilfskräfte sind im Einsatz.
“Jeder fuhr los und rettete, was zu retten war. Ich fuhr mit einem jungen Engländer in einem Unimog kreuz und quer durch das Katastrophengebiet. Wir saßen dabei bei eisigen Temperaturen bis zur Hüfte im Wasser und sammelten Verletzte ein, die wir an einem Stützpunkt auf einer Brücke ablieferten. Plötzlich trafen wir auf eine junge Frau, die nur mit einem Nachthemd bekleidet im Wasser lag und um Hilfe rief. Als wir sie heraus ziehen wollten, schrie sie auf. Sie war hochschwanger und hatte sich unter Wasser in einem Stacheldraht verfangen. Wir brachten sie zum Stützpunkt. Einige Wochen später klingelte eine Frau an meiner Tür und wollte meinen Vornamen wissen. Es war die gerettete Schwangere, die einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hatte, und der sollte wie der Mann heißen, der ihr das Leben gerettet hatte“. (Karl-Heinz Krebs, 1962 Sanitätssoldat)
Die Rettungskräfte haben mit zahllosen Problemen zu kämpfen. Weil vier Kraftwerke des städtischen Energieversorgers HEW überflutet werden, haben große Teile der Stadt kein Licht und keine Energie. Die Nachrichtenverbindungen fallen aus, Flutwasser überspült die Wasserleitungen. Eingesetzte Schlauchboote werden von Stacheldraht und überfluteten Hindernissen aufgerissen. 82 Hubschrauber fliegen im Dauereinsatz, obwohl die Betriebsvorschriften das bei den herrschenden Windstärken verbieten. In einem Wettlauf gegen die Zeit werden rund 1130 Menschen aus der Lebensgefahr gerettet, 700 von ihnen per Hand in Hubschrauber gezogen. Die Piloten erhalten die Beinamen “Fliegende Engel“.
“Die Hubschrauber-Einsätze waren halsbrecherisch. Die meisten Menschen hatten sich auf Dächer gerettet und mussten von dort geborgen werden. Wir landeten mit einem Rad auf dem Giebel der Häuser und mussten versuchen, während die Menschen in den Helikopter stiegen, auf der anderen Seite in der Luft die Balance zu halten – was bei den vorherrschenden Windgeschwindigkeiten sehr gefährlich war“.
Bernd Hauber, 1962 Hubschrauberpilot - und 2004/ 05: Er flog seinen Original-Hubschrauber auch für die Dreharbeiten zu “Die Sturmflut“. “Uns wurde freigestellt, in das Überschwemmungsgebiet zu fliegen. Die Windgeschwindigkeiten waren zu groß, als dass uns jemand hätte befehlen dürfen aufzusteigen. Aber niemand blieb auf dem Boden, wir starteten im Windschatten der Hangarhalle und versuchten, uns ein Bild der Lage zu machen. Später flogen wir Innensenator Helmut Schmidt über das Krisengebiet. Ihm begegnete ich auch anschließend im Krisenstab. Er war der Mann der Stunde, und er hatte mir verziehen, dass ich nicht wie verabredet auf seine Rückkehr gewartet hatte, weil die Menschen auf unsere Hilfe warteten. (Dietrich Schmeidler, 1962 Leutnant der Luftwaffe Fliegerhorst Fassberg)
6.000 Eingeschlossene werden aus der Luft mit Lebensmitteln, Trinkwasser und 90.000 Wolldecken versorgt – überlebensnotwendig für Menschen, die bei Temperaturen um den Nullpunkt durchnässt auf Dächern oder Bäumen sitzen. 18.000 werden evakuiert, mehr als 60.000 sind vorübergehend obdachlos. Eine Welle der Hilfsbereitschaft und “absoluten Solidarität“ (Helmut Schmidt) verhindert ein schlimmeres Ausmaß der Sturmflut.
Bei der Trauerfeier auf dem Rathausmarkt am 26. Februar trauern mehr als 100.000, darunter Bundespräsident Heinrich Lübke, um die Toten. 225 Wohnungen in massiven Häusern sind völlig zerstört, 33 Behelfsheimgebiete in Hamburg-Wilhelmsburg werden für unbewohnbar erklärt – eine Fläche von 790.000 qm.